"Ich bin im Lesen mit gespanntem Interesse dem inneren Weg des Autors gefolgt", schreibt Ingeborg Woitsch über Peter J. Wölls biografische Suche "Du bist ein verhüllter Engel" (Der Erzählverlag 2021). Darin geht der Vater einer mehrfach behinderten Tochter der Frage nach, warum es Menschen mit Behinderung gibt. In informiert!, dem Info- und Serviceblatt der Bundesvereinigung Selbsthilfe im anthroposophischen Sozialwesen e.V., beschrieb sie zu Weihnachten ihre Eindrücke während des Lesens von Wölls Bericht. Lesen Sie selbst!
Ich habe selbst eine enge Verbindung mit meiner Schwester mit Behinderung und begegne ihrem Schicksal mit großem Respekt. In den letzten Jahren musste ich allerdings feststellen, dass ich wenig Freude an Büchern von Angehörigen habe, die das Leben eines Menschen mit Behinderung ins Ungefähre verklären und überhöhen. Der Titel "Du bist ein verhüllter Engel" hat es mir deshalb anfangs schwer gemacht, mich auf diese Lektüre einzulassen. Ich bin aber dann im Lesen mit gespanntem Interesse dem inneren Weg des Autors gefolgt. Er begleitet alleinerziehend seine Tochter mit einer geistigen Beeinträchtigung und schwerer
Epilepsie. Er sucht solide Antworten auf die Frage, was es für das persönliche Schicksal wie auch für unsere Gesellschaft bedeuten kann, dass ein Kind mit Behinderung auf diese Welt kommt. Auf dieser Suche durchstreift er wissenschaftliche, philosophische und religionsethische Standpunkte, Wertvorstellungen und Haltungen. Er zieht Schlussfolgerungen und kommt deutlich zur Einsicht: Das wissenschaftliche Menschenbild beschreibt das Wesen des Menschen nur unzulänglich. Die Seele des Menschen existiert unabhängig vom Körper. Menschen mit Behinderung lassen uns durch ihr Wesen eine große, selten erfahrene, Seelenkraft und Charakterstärke erleben, wenn wir uns dafür öffnen. Diese Wahrnehmung ist durch die Behinderung nur "verhüllt". Es gibt viele Aspekte, warum ein Mensch mit Behinderung als Entwicklungsmotor für unserer gesellschaftliches Leben betrachtet werden kann.
Der Autor Peter J. Wöll findet in den großen Religionen und in den Philosophien der Welt Antworten auf die Fragen: Was ist der Mensch? Warum gibt es Leid? Wie entwickeln wir das Beste in uns? Er gibt insbesondere Einblicke in das religiöse Denken der Bahá'í. Wie gelingt es uns heute Menschlichkeit zu lernen?
Auch in Form von Briefen an seine Tochter vermittelt der Vater ein tiefes Verständnis vom (noch nicht wirklich verstandenem) Wert eines Menschen mit Behinderung.
Ingeborg Woitsch
Ingeborg Woitsch betreibt eine Schreibwerkstatt für Kunst, Biographiearbeit und Poesietherapie in Berlin. Sie ist ausgebildete Klinische Poesie- und Bibliotherapeutin (DGPB), Entspannungspädagogin, Heilpraktikerin für Psychotherapie und psychosomatische Grundversorgung (GHH) und Poesiepädagogin (IKS).
Ingeborg Woitsch arbeitet als Redakteurin der Zeitschrift PUNKT UND KREIS des Verbandes Anthropoi Selbsthilfe. Im Jahr 2018 erhielt sie den Kurzgeschichten-Preis der Fürst Donnersmarck-Stiftung. Außerdem ist die Preisträgerin des Wiener Werkstattpreises für Literatur (2004) und des Karlsruher Hörspielpreises (2000).
Bild: www.ingeborgwoitsch.de