Als ich zwanzig war stellte ich eines Tages plötzlich fest, dass ich nur biografische Schriften gelesen hatte. Damals war ich der Meinung, dass ich mir nicht von anderen sagen lassen sollte, wie ich zu leben hätte und wechselte zum Sachbuch. Nach über vierzig Jahren steigt mein Interesse am biografischen Schrifttum wieder. Heute lese ich es anders als damals. Solche Lektüre wird mir jetzt zum Gespräch, führt oft zum Verständnis für das Gewordene des eigenen Lebens und manchmal sogar zu einem Einvernehmen mit der erlebten Geschichte.
Gespräche in der Coronazeit waren Auslöser für die Niederschrift der Lebenserinnerungen von Carla Thompkins. Ihre frohe Kinderzeit auf dem Lande fand ein jähes Ende, als die Eltern Haus und Hof verloren. Das Kind hatte Glück; es kam in die Stadt zu den Großeltern, die es mit Wärme und Verständnis zu begleiten wussten. So lebte sie im Badischen in einer Großfamilie, in der auch Englisch und Französisch gesprochen wurde, Ausflüge zum Alltag gehörten und Klaviermusik erklang.
Als sie einmal von der Schule heimkam, traf sie auf Albert Schweitzer, der ihren Onkel Hellmut besuchte, und sich ihr sogleich zuwandte. Bezug nehmend auf dessen Gespräch mit dem Onkel heißt es in ihren Erinnerungen: „Und ernst fuhr er fort: 'Was auch immer du machen wirst, Hellmut, denk immer daran, die meisten Menschen ziehen den Wein zurück, wenn Gott ihnen einschenken will.'“ Abschließend ist in diesem Zusammenhang zu lesen: „Die Bedeutung dieses Besuchs von Albert Schweitzer im August 1959 wurde mir erst viel später bewusst.“ Onkel Hellmut ging bald in die USA und kämpfte an der Seite von M. L. King für die Rechte der schwarzen Bevölkerung. Aber diese Begegnungen legten im Herzen des Kindes den Samen für die spätere Entwicklung eines spirituell begründeten politischen Bewusstseins. Damit einher ging der Aufbruch in eine Zeit des Suchens nach Orientierung.
Die Darstellung dieser Lebensphase ist von einer denkwürdigen Offenheit und Tiefe und löst beim Leser viele Fragen aus, die mit dem eigenen Werdegang verbunden sind. Wenn heute ein Altersrentner diesen Bericht über die 70er Jahre liest, wird sogleich das eigene Lebensgefühl aus der Erinnerung an jene Zeit lebendig: die Musik von Bob Dylan und Jimi Hendrix und die erotische Spiritualität vermischten sich mit libertären Idealen.
Die Erzählerin absolvierte damals ein pädagogisches Studium und ging einem einträchtigen Nebenjob als Verkaufsagentin nach, von dem sie gut leben konnte. Rückblickend reflektiert sie heute: „Was verändert den Menschen mehr, Marketing oder Pädagogik? Ich hätte diese Frage gern Onkel Berti (Albert Schweitzer – K. H.) gestellt, aber der lebte schon lange nicht mehr!“
"Beim Lesen wird man an eigenes Glück und Leid erinnert.
Die Stärke dieser besonderen Art und Weise der Erinnerung von Frau Thompkins
liegt in der Ermutigung des Lesers, mit dem eigenen Schicksal konstruktiv umzugehen."
Klaus Hugler
Auf dem Hintergrund solcher Lebensumstände, den Begegnungen mit Grenzerfahrungen und der Suche nach dem Glück, spiritueller Erfahrungen klassischer und erotischer Art bildete sich eine eigene Lebensphilosophie mit dem entsprechenden Wertekanon. Auf diese Weise findet die junge Frau ihren Weg.
Beim Lesen wird man an eigenes Glück und Leid erinnert. Die Stärke dieser besonderen Art und Weise der Erinnerung von Frau Thompkins liegt in der Ermutigung des Lesers, mit dem eigenen Schicksal konstruktiv umzugehen. Hatte ich oben gesagt, dass es ein Buch sei, in dem die Lebenserfahrung der älteren Generation zum Ausdruck gebracht wird, so muss ich jetzt doch sagen, dass es auch etwas für junge Menschen ist, die vor der Frage stehen, welche Wege sie in dieser Zeit einschlagen und welchen Zielen sie folgen sollen!
PS.: Carla Thompkins wirkte in den späten Jahren ihres Lebens in einigen Krisengebieten unserer Welt, setzte sich jeweils vor Ort für das gelingende Miteinander der Menschen ein, aber ihr besonderes Engagement galt dem Dialog der Religionen. Onkel Hellmut besucht sie noch immer, hatte sie sich doch zwischenzeitlich im Schwarzwald niedergelassen. An einen dieser Besuche erinnernd schreibt sie: „Natürlich besuchten wir zusammen das Albert-Schweitzer-Haus in Königsfeld. Wir kamen zu dem Schluss, dass Onkel Berti mit Hellmuts und meinen Lebensentscheidungen sicher einverstanden gewesen wäre.“
Klaus Hugler
Carla Thompkins
Opa, Onkel Hellmut, Castadarrow und ich
Ein Leben mit Verwicklungen
128 Seiten, 16,5 x 23,5 cm, Softcover
ISBN 978-3-947831-62-3
Artikel-Nr. 79-3162
12,00 € (D), 12.50 (AT)
Klaus Hugler wurde 1955 in Peitz (Niederlausitz) geboren. Anfang der Siebziger lernte er Zerspannungsfacharbeiter in Guben und absolvierte anschließend in der evangelischen Kirche eine Diakonenausbildung in Berlin und Eisenach. In diesem Beruf war er 1978/79 in Berlin-Pankow, 1979-1986 in Neuruppin und seit 1986 in Potsdam tätig. 1994 erschien sein erstes Buch: "Missbrauchtes Vertrauen", das sich mit autobiografischen Fragmenten zu der christlichen Jugendarbeit "unter den Augen der Stasi" äußert (Aussaat-Verlag Neukirchen-Vluyn - 3. Aufl. 1999). Es folgten 1996 und 1997 zwei Lyrik-Bände im Eigenverlag: "Was bleibt und was kommt" sowie "Augenblicke der Ewigkeit". Ab Ende der Neunziger gestaltete er diverse Lyrik-Musik-Projekte und baut bis heute seine Vortragstätigkeit und Herausgeberschaft zu Dostojewskij, Mühsam, Damaschke und Morgenstern aus. Anfang der 2000er Jahre war Klaus Hugler kurzzeitig auch kommunalpolitisch aktiv. Hugler lebt in Potsdam-Babelsberg.
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