Gegenwartsgeschichten frei erzählen

Wir erzählen eigentlich immer. Wir können gar nicht anders, als uns unsere Geschichten, Erlebnisse und Erfahrungen zu erzählen. Wir sind ja soziale Wesen ... Doch was macht aus einem dahingeworfenen Bericht über unsere Geschehnisse im Alltag eine hörenswerte Geschichte, die uns zum Nachdenken bringt, unterhält oder zum Weiter- und Miterzählen einlädt?  Der emeritierte Lehrstuhlinhaber, Erzähler und Autor (zuletzt "Sieh, damit wir sehen. Eine Geschichte des Geschichtenerzählens, Der Erzählverlag 2021) hat mit einem Kreis enthusiastischer Geschichtenliebhaberinnen und -liebhaber am vergangenen Wochenende (31.03.–2.04.2023) in der WortWerkstatt der Wiener Erzählerin Margarete Wenzel zu dieser Frage gearbeitet. Das Fazit am Ende des Seminars: Eine Geschichte ist selten nur dann frei erzählt, wenn sie ohne Medium daherkommt. Das ist auch die Rezitation. Frei ist sie vor allem, wenn der Erzählstoff losgelöst von Vorlagen aus uns selbst fließt.

obere Reihe v.l.n.r.: Margarete Wenzel; Christopher Robin Goepfert; Barbara Steinert, Paul Daniel, Petra Schwarz 
untere Reihe v.l.n.r.: Peter Amsler; Anna Melach; Johannes Merkel; Eva Steinhauser

Der Bremer Erzähler Johannes Merkel nennt sie "Gegenwartsgeschichten": Geschichten, die ganz aus dem Alltag der Gegenwart geschöpft werden und unmittelbar zur Interaktion mit den Zuhörenden bestimmt sind – zur Erinnerung, zum Miterleben oder zum Miterzählen. Auch sie folgen wie Märchen, Sagen oder Novellen bestimmten Strukturmerkmalen – einer "Geschichtengrammatik" –, ihre Stoffe ergeben sich indes nicht aus vorgegebener Literatur, sondern aus dem Leben, so wie es ist – oder sein soll und also in unserer Fantasie, unseren Wünschen und Träumen zum Ausdruck kommt.

 

Gegenwartsgeschichten spielen mit der Lust der Zerstörung unserer alltäglichen Erwartungen, sagt Johannes Merkel. Mit ihren Sonderbarkeiten stehen sie dem Geschehen im Traum nahe. Damit kommt ihnen eine Verarbeitungs- und Entlastungsfunktion zu. Jedoch müsse auch die Gegenwartsgeschichte so wahrscheinlich sein, dass sie auf Vertrauen bei den Zuhörenden stößt. 


"Damit eine Geschichte als Geschichte gelten kann, muss erstens die Erzählung mit einem regelrechten Einstieg aus der laufenden Gegenwart von Erzähler und Hörer ausgegrenzt werden, zweitens hat sie einen Helden sowie Ort und Zeit der Handlung zu benennen, drittens ein Ereignis in das Leben des Helden eingreifen zu lassen, mit dem sich viertens der Held auseinander zusetzen hat, und schließlich muss der Erzähler fünftens diese Auseinandersetzung zu einem Ergebnis und die Geschichte damit zu einem Abschluss bringen, der wieder zurückführt in die mit der Erzählung verlassene Gegenwart."

– Johannes Merkel


Einige der Strukturmerkmale des mündlichen Erzählens von Gegenwartsgeschichten (im Gegensatz zum literarischen Erzählen) wurden durch die Teilnehmenden aufgrund eigener, gemeinsam erarbeiteter Geschichten identifiziert. Im Folgenden einige lose Gedanken:

  • Der Erzählende hält seine Geschichte für erinnerungswürdig ("herausragendes Ereignis oder ein überraschender Einfall"), um sie zu erzählen, und weiß sie adressartengerecht zu platzieren. Die Außergewöhnlichkeit der Geschichte macht ihre Bedeutung aus. 
  • Der Verstehenshorizont ist geklärt: Die Zuhörenden sind im Grundsatz in der Lage, der Erzählung zu folgen. Sonderbarkeiten müssen ihnen nicht erklärt werden, was zur Folge haben kann, fremdartige Geschehnisse in die Gegenwart der Zuhörenden zu transferieren.
  • Dem Anfang kommt eine besondere Bedeutung zu. Er ist häufig versetzt mit Formeln oder Fragen ("Wisst ihr, was mir passiert ist?"). Dann: Zu Beginn eher "malend" erzählen, sprich ein Bild entwerfen, um die Zuhörenden in die Geschichte ankommen zu lassen. Später in die Episoden ein- und auszoomen, schneller ("Kurz und gut, ...") oder langsam erzählen.
  • Die Handlung erfolgt durch den linearen Ablauf einzelner Szenen: Diese können zwar miteinander verkettet und kombiniert sein, doch darf das Handlungsmuster nicht zu kompliziert sein, um die Verständlichkeit zu erhalten. Zeit, Raum und Handlung bilden vielfach eine Einheit.
  • Es gibt eine Berichtsseite des Erzählens und eine personale Seite: Die Berichtsseite gibt Antworten auf Fragen wie wer, wo, was, wie geschehen ist. Die personale Seite entschlüsselt die Frage nach dem Warum. So wird die Geschichte durch das Handeln der Protagonisten dominiert. Gefühle und Motive lassen sich aus den Ereignissen schließen, allenfalls sind sie durch kurze Bemerkungen angedeutet.
  • Szenisches Erzählen hilft, die Perspektiven zu wechseln, wobei unterschiedliche Motive und Wertvorstellungen von unterschiedlichen Personen repräsentiert werden.
  • Vielfach gilt das Prinzip der Steigerung: Die Handlung eskaliert und treibt auf einen Höhepunkt zu. Kettengeschichten hingegen bieten "immer mehr vom Gleichen" – sie dienen zum Miterzählen, letztlich zur Sprachförderung.
  • Das außergewöhnliche Ereignis der Ausgangslage, das das Erzählen motivierte, erfordert am Ende eine Antwort auf die Frage, zu welchem Ende die Geschichte führt. Auf einmal hat sich etwas verändert, es fand ein Wandel statt, doch mit welchem Ergebnis? (Ein Sonderfall sind wieder die Kettengeschichten, die stets zu einem sinnvollen Ende kommen müssen.) Am Ende kommt die See zu Ruh: Das Außergewöhnliche ist ins Gewöhnliche heimgekehrt. Das Geschehnis hat Sinn gestiftet und das Erzählen darüber hat zur Verarbeitung oder zur Entlastung beigetragen.

"Diese Gesetzmäßigkeiten gelten prinzipiell auch für alle anderen Formen mündlichen Erzählens", meint Johannes Merkel. "Für die überraschenden kleinen Erlebnisse, die wir im täglichen Umgang zu kurzen Anekdoten verarbeiten, ebenso wie für die verschlungenen Geschichten der großen Erzähltraditionen", schreibt er auf seiner Webseite "Merkels Erzählkabinett". Es seien die gleichen mentalen Vorgänge und kommunikativen Verhaltensweisen, die dem Erzählen zugrunde liegen, "und deren sich der Berufserzähler auf dem Marktplatz von Marrakesch ebenso bedient wie die Nachbarin, die über den Gartenzaun den missglückten Ausflug des letzten Wochenendes zum Besten gibt", wie Merkel betont.

 

Jedoch gibt er zu bedenken: "Es ist keineswegs so, dass Erlebtes zu Geschichten gerinnt, wenn es die formalen Strukturmerkmale des Schemas erfüllt. ...  Ob sich Erlebnisse zum Erzählen anbieten, entscheidet sich daran, wie weit sie Strebungen und innere Bilder, die tiefere seelische Schichten berühren, wachzurufen und auszusprechen ermöglichen. Sobald hinter den unerwarteten Vorkommnissen Bedeutungen durchscheinen, die dem oberflächlichen Geschehen einen doppelbödigen 'tieferen' Sinn verleihen, entsteht die Spannung, die aus dem außergewöhnlichen Ereignis eine bewegende Geschichte werden lässt." Prospektiv bereiten Gegenwartsgeschichten also auf kommende, vergleichsweise Geschehnisse vor. Das Erzählte vollzieht sich stellvertretend für das Erlebte. Retrospektiv sind Gegenwartsgeschichten Lockerungsübungen zur Auflösung kognitiver Dissonanzen. Und die machen das Erlebnis nicht wahrer, nur eben glaubwürdiger.