von Klaus Hugler
I.
Ist es wichtig denen, die die russische Kultur nach eigenen Bekundungen zerstören möchten, etwas entgegenzusetzen? Bevor man diese Frage mit einem Ja oder Nein beantwortet, führe ich mir die Bilder von den zerstörten ukrainischen Städten und den Toten dieses schrecklichen Krieges vor Augen. Unter diesen Umständen kann ich eine Erklärung dafür finden, dass man „den Schoß, aus dem das kroch“ vernichten möchte, damit der Krieg der Russen gegen die Ukrainer endlich endet. Diesen Wunsch kann ich nachvollziehen, doch führt er mich zu der Frage, ob die, die solches fordern, auch wissen, was sie damit anrichten würden, ganz zu schweigen von der anderen Frage, ob dadurch der Friede kommt. Mir jedenfalls bleiben Zweifel, begründete Zweifel, wie sich noch zeigen wird.
Könnte es nicht auch sein, dass gerade damit die geistigen Voraussetzungen für Wege zu einem künftigen Frieden, nach denen sie doch selbst auch suchen, mit vernichtet werden? Und ist es nicht der große russische Dichter Lew Tolstoi gewesen, der Gandhis Lehre von der Gewaltlosigkeit maßgeblich beeinflusst hat? Ebenso wie er Albert Schweitzers Idee von der Ehrfurcht vor dem Leben – an der es heutzutage vielerorts fehlt – mit bestimmt hat?
Wo also sind die Intellektuellen Russlands und die durch das sowjetische Bildungssystem gegangenen Ukrainer, die das auch heute noch nicht vergessen haben? Und wo sind die Kulturschaffenden hierzulande, die sich vom Zorn der Unverständigen nicht mitreißen und die Dummheit solcher Forderungen nicht unwidersprochen stehen lassen?
Selten gibt es Gelehrte, die sich so tief in die Gedankenwelt Fjodor M. Dostojewskijs (1821-1881) versenkt haben, wie der Potsdamer Publizist und Lyriker Klaus Hugler. Für jeden Tag des Monats findet Hugler Schlüsselzitate aus dem Werk Dostojewskijs, die uns das Denken des bedeutendsten russischen Schriftstellers erschließen. Weiterführende Fragen und Raum für Notizen machen das Büchlein zu einem persönlichen Begleiter. Holzschnitte und Zeichnungen von Frans Masereel, Alfred Kubin, Wilhelm Geißler u.a. geben dem Brevier überdies seine unverwechselbare Prägung. Es erschien im Dostojewskij-Jahr 2021 im Erzählverlag (124 Seiten, 10,5 x 14,8 cm, Hardcover mit Fadenbindung, ISBN 978-3-947831-56-2). Dostojewskij zum Selberdenken!
II.
Für mich selbst sind die großen Russen wie Tolstoi und Dostojewskij in all den Jahren und über den Wechsel der politischen Systeme zu Weggefährten geworden, die mir im Laufe meines langen Lebens immer wieder die Augen für das Wesentliche geöffnet und gerade dadurch in schwierigen Zeiten Hoffnung gegeben und Wege gewiesen haben. In dieser Beziehung ging es mir in der Begegnung mit diesen herausragenden Vertretern russischer Kultur ebenso wie dem indischen Mahathma und dem Ethiker, Arzt und Philosophen aus dem Elsass. Darüber habe ich an anderer Stelle geschrieben. Heute soll von Russen die Rede sein, die von Tolstoi und Dostojewskij als „ewigen Gefährten“ gesprochen haben – Dimitri Mereschkowski (1865–1941) und seinen Anmerkungen zu einem anderen Zeitgenossen: Wladimir Solowjoff (1853–1900).
Dimitri Mereschkowski. Wegbereiter des russischen Symbolismus
Mereschkowski wird zu den Wegbereitern des russischen Symbolismus gezählt. Sein Vater ging aus dem ukrainischen Adel hervor. Er selbst verstand sich als Russe und setzte sich zeit seines Lebens mit dem russischen kulturellen und religiösen Erbe auseinander, ebenso mit den politischen und sozialen Fragen, weil er darunter litt und die Menschen liebte. Diese Symbiose aus dem Leiden und der Liebe – charakteristisch für viele russische Denker – war für ihn unauflösbar. Sie brachte ihn schließlich in Widerspruch zum militanten russischen Sendungsbewusstsein seiner Zeitgenossen, den Panslawisten ebenso wie den Bolschewiki. Unter diesen Umständen floh er 1920 über Warschau nach Paris. In Folge seiner Flucht kam es zu mancherlei Begegnungen mit den damals bekannten Vertretern der sozialen und politischen Strömungen Europas, die nicht ohne Folgen für sein Schaffen blieben. Dazu gehörten Vertreter der völkischen Bewegung und die Größen des französischen und deutschen Geisteslebens. Im Jahre 1922 gehörte er, wie auch Thomas Mann, zum sogenannten Juniklub. Nach den Kennenlernen sagte Thomas Mann: „Dimitri Mereschkowski: Der genialste Kritiker und Weltpsycholog seit Nietzsche.“
III.
Was hat Mereschkowski der russischen Kultur unter den Umständen seiner Zeit abgewinnen können? Oder anders gefragt: Welche russischen Geister haben ihm etwas Spezifisches zu sagen gehabt?
Ich will es hier am Beispiel eines fast vergessenen Philosophen veranschaulichen, den einer seiner deutschen Übersetzer einst mit Plato verglichen hatte, und der in den Augen Mereschkowskis ein Prophet gewesen ist: Wladimir Solowjoff.
Mereschkowski hatte sich im Laufe seines Lebens öfter mit Solowjoff befasst. Aber in einer wenig bekannten Gedenkrede aus dem Kriegsjahr 1915 stellt er dessen „Nationalismuskritik“ in den Mittelpunkt seiner Betrachtung, wohl weil der Nationalismusgedanke von den Kriegstreibern des Weltkriegs hauptsächlich benutzt wurde, um mit Hilfe der Feindbilder die Gegner der anderen Völker herabzusetzen und die Kampfmoral der eigenen Truppe zu stärken.
Wissend darum, dass der Nationalismus heute eine andere Rolle für die Völker dieser Welt spielt, dass das Wiedererwachen des Nationalbewusstseins ein verbreitetes Phänomen in Europa ist, das auch als Antwort auf eine Europapolitik zu verstehen ist, die von vielen Menschen als verordnete Gleichmacherei von oben erlebt wird, soll diese Stimme der russischen Kritik hier zu Wort kommen. Bezug nehmend auf ein Gedicht Solowjoffs, schreibt Mereschkowski, der wie seine Zeitgenossen, die Kriegsberichtserstattung und die Bilder von den Schlachtfeldern vor Augen hatte: „Wir beginnen jetzt zu begreifen, dass der Nationalismus als eine blasphemische Bejahung und absolute Vergötterung seines Volkes nicht nur für Russland, sondern auf für ganz Europa und die Menschheit eine Daseinsfrage bedeutet. Der Weltkrieg stellt eben diese Frage.“
"Welches Ideal ist nun höher als das nationale?"
Mereschkowski charakterisiert daraufhin den Krieg als den ersten allgemeinen, bedingungslosen, „endgültigen oder unendlich absoluten Krieg“. So kommt er zum folgenden Schluss: „Der absolute Krieg ist eine Frucht des absoluten Nationalismus. Wir trösten uns damit, dass der absolute Nationalismus nur eine Eigenschaft unserer Gegner ist, aber nicht unsere Eigenschaft sei. Zugegeben, dass unserer Nationalismus geringer und bedingter ist. Man kann aber nicht ein Größeres durch ein Kleineres, ein Absolutes durch ein Relatives überwinden. Man kann das falsche Absolutum nur dann besiegen, wenn man ihm ein wahres Absolutum gegenüber stellt, d. h. wenn man das nationale Ideal durch irgendein höheres ersetzt. Welches Ideal ist nun höher als das nationale?“
So weit Mereschkowski. – Beim Lesen dieser Gedanken stellt sich mir die Frage, inwiefern dies auch auf das Kriegsgeschehen in der Ukraine zutrifft, und wenn dies der Fall ist, und wir ihnen folgen, welches „höhere Ideal“ wir heute anstreben sollen.
Mereschkowski fährt fort: „… wenn wir den absoluten, unendlichen Krieg nicht wollen, so müssen wir uns daran erinnern, dass das heute tote Ideal der Allmenschlichkeit einst lebendig gewesen ist; und wir müssen glauben, dass es einmal wieder lebendig sein wird. Wladimir Solowjoff wusste es und glaubte daran wie kein anderer Mensch: nur davon handeln seine Worte und seine stummen Prophezeiungen. Er wusste wie kein anderer Mensch, dass der absolute Nationalismus durch das Ideal der absoluten Menschlichkeit überwunden werden kann. Dieses Ideal bleibt aber abstrakt, leblos und wirkungslos, solange es nicht in der Wirklichkeit, wenigstens in einem Punkt, in einer Person, in einem Absoluten Menschen verkörpert ist. Ein solcher Absoluter Mensch ist der Gottmensch Christus. Vom Gottmenschen zum Gottmenschentum – so lautet der religiöse Gedanke Solowjoffs.“
Ein Konzept zur Entfeindung als erster Schritt zum friedlichen Miteinander
Tolstoi verwirft den Krieg wie jede Form der Gewalt. Solowjoff rechtfertigt und bejaht ihn nicht, nimmt ihn aber als Teil eines weltgeschichtlichen Prozesses in Kauf. Tolstoi oder Solowjoff – beider Weg zum Frieden ist religiös begründet und beruht auf der menschlichen Fähigkeit zur Einfühlung in das andere Wesen.
Daran erinnert dann auch Mereschkowski: „Diese Fähigkeit der Einfühlung, der Durchdringung eines fremden nationalen Körpers mit seiner Seele ist nicht nur eine ideelle Möglichkeit, sondern durchaus reale Wirklichkeit, gleichsam eine Offenbarung jener 'neuen Kreatur', von der der Apostel Paulus spricht, – eine neue Geburt, ein Eindringen in fremdes Fleisch und Blut. Wenn Solowjoff für die Juden und Polen eintrat, wurde er selbst zu einem Juden und Polen (er 'verjudete', wie es die Unverständigen nannten, um ihn zu lästern); den Juden und Polen ist er wie ein Blutsverwandter. Ebenso erscheint auch Tolstoi den entfernten und fremden Völkern als ihr Blutsverwandter.“
Mir stellt sich die Frage, ob in dieser Einstellung und Möglichkeit dem Fremden zu begegnen, nicht der Ansatz für ein Konzept zur Entfeindung, also ein erster Schritt zum friedlichen Miteinander verborgen liegen könnte … – Und das bietet uns die russische Kultur, die zerstört und vernichtet werden soll, wenn es nach den Unverständigen gehen soll. Mereschkowski nennt dieses Geschehen ein Wunder und stellt fest: „Dieses Wunder der Umwandlung, der Durchdringung eines fremden Körpers mit seiner Seele, der Allmenschlichkeit, ist ein spezifisch russisches Wunder, eine eigentümliche, große und schreckliche Gottesgabe.“
IV.
Die Möglichkeit, den Glauben an dieses Wunder auf ewig zu zerstören, ist ein teuflisches Werk. Als solches hat es der Apokalyptiker Dostojewskij in seinem Buch „Die Dämonen“ dargestellt.
Abschließend frage ich mich: Kann es sein, dass dieser typisch russische Realismus den Kriegstreibern unserer Tage ein Dorn im Auge ist? Und, wenn ja, warum wohl?
Klaus Hugler ist Lyriker und Publizist. Er veröffentlicht und hält Vorträge zu Dostojewskij, Damaschke, Rosegger, Wille und anderen. Hugler wurde 1955 in Peitz (Niederlausitz) geboren. Anfang der Siebziger lernte er Zerspannungsfacharbeiter in Guben und absolvierte anschließend eine Diakonenausbildung in Berlin und Eisenach. In diesem Beruf war er bis 2021 in Pankow, Neuruppin und seit 1986 in Potsdam tätig. Sein "Dostojewskij zum Selberdenken" erschien im Erzählverlag im Juni 2021.
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